Fragend werden und lauschend

Plädoyer für einen anderen Blick auf Autismus

Sonderlinge, die zwar keinen Small-Talk führen, dafür aber ganze Telefonbücher oder Bahnfahrpläne auswendig können – unser Bild von autistischen Menschen speist sich zu einem großen Teil aus medialen Quellen, allen voran vermutlich dem Film „Rain Man“ aus dem Jahr 1988 mit Dustin Hoffmans oscarprämierter Darstellung des Asperger-Autisten Raymond Babitt. Die Gesellschaft definiert autistische Menschen – wie Menschen mit Behinderungen überhaupt – häufig vor allem über ihre Defizite. Dabei nutzen mittlerweile sogar große Konzerne wie SAP die besonderen Inselbegabungen mancher Menschen mit Autismus-Syndrom: Sie schätzen ihr enormes Konzentrationsvermögen, ihr Zahlenverständnis oder auch, dass sie direkt und unverstellt kommunizieren.

Doch über diese Perspektive der wirtschaftlichen Nützlichkeit hinaus gibt es auch andere Aspekte des Autismus, über die nachzudenken lohnt. „Mit einem anderen Blick“, so hat Ulrike Geist ihr Buch überschrieben, in dem sie einer möglichen geistigen Dimension des Autismus nachgeht. In einer Mischung aus sachlichen Hintergrundinformationen über das Autismus-Spektrum und Selbstzeugnissen von autistischen Menschen plädiert sie für mehr Einfühlungsvermögen und Wertschätzung vonseiten der neuro-typischen, also sogenannten „normalen“ Menschen.

Besonders berührend sind die kurzen, zumeist im Jugendalter verfassten Texte und Gedichte, in denen autistische Menschen Einblicke in ihr Erleben geben. Autistische Menschen haben häufig Schwierigkeiten sich auszudrücken oder sind gar nicht dazu in der Lage. Einen – allerdings nicht unumstrittenen – Ausweg bietet die Gestützte Kommunikation, durch die etwa der damals noch junge Birger Sellin in den 1990er Jahren als Autor in Erscheinung treten konnte, von dem ebenfalls Texte im Buch vertreten sind. Einige weitere Texte des Buches sind auf diese Weise entstanden. Wir lesen von den Ängsten und Nöten autistischer Menschen ebenso wie von ihren Träumen. Sie berichten, dass sie sich in der Gesellschaft außen vor fühlen, als nicht-kompatibel erleben – wie ein Meerwasserfisch im Süßwasser-Becken oder ein Wesen von einem anderen Stern. Andererseits offenbaren manche Texte auch großes Selbstbewusstsein, eine enorme Feinfühligkeit oder auch eine verblüffende spirituelle Offenheit. Ulrike Geist betrachtet die Selbstzeugnisse im Buch als „Zeugnis von Vorgängen, die uns die spirituellen Bezüge zwischen Mensch und Natur, geistiger und materieller Welt vor Augen führen und und so zumindest fragend und lauschend werden lassen können“. Eine Aufforderung, der hoffentlich viele Leserinnen und Leser folgen werden – dieses nicht zuletzt ästhetisch außerordentlich ansprechend gestaltete Buch kann dafür ein guter Türöffner sein.

Ulrike Geist: Mit einem anderen Blick. Zur geistigen Dimension des Autismus
Info3-Verlag 2017, 128 Seiten, Klappenbroschur, 25 Abbildungen, € 15,80
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