Sinnlos: Welch ein Glückstreffer. (Philip Kovce)
Die schönsten Geschichten ereignen sich oftmals auf Nebenschauplätzen – diese Erfahrung machte ich am Wochenende wieder einmal am Rande der Leipziger Buchmesse.
Gemeinsam mit zwei Autoren trete ich den Heimweg vom Messegelände zum Hotel an, wo wir vor der Abendveranstaltung, bei der die beiden gemeinsam auftreten werden, noch eine Kleinigkeit essen wollen. Wir lassen die bummelige Straßenbahn links liegen und entscheiden uns für die schnellere S-Bahn, um vom Messegelände zur Innenstadt zu gelangen. Doch irgendwie verzögert sich deren Abfahrt. Während wir warten, füllt sich die Bahn. Jugendliche Besucher der Manga-Convention schieben sich mit ihren ambitionierten und raumgreifenden Kostümen – ist das ein Hirschgeweih? – in den Wagen, es wird immer enger, die Luft schlechter. „Allmählich nähern wir uns dem kritischen Punkt, an dem es doch schneller gegangen wäre, wenn wir die Straßenbahn genommen hätten“, scherze ich. Da hält ein Gleis weiter ein ICE, und wir seufzen: Da drin müssten wir jetzt sitzen! Dann eine Durchsage: Wegen einer Betriebsstörung verzögert sich die Abfahrt der S-Bahn weiter. Ein kurzer Wortwechsel, ein schneller Entschluss: Wir verlassen die Bahn, rasen die Treppe runter, am anderen Gleis wieder hoch. Im Laufen denke ich noch kurz darüber nach, dass ich natürlich eigentlich keine gültige Fahrkarte habe, ach, was soll’s, in den fünf Minuten bis zum Leipziger Hauptbahnhof wird schon kein Schaffner kommen.
Die Türen schließen sich, großes Gewusel im ebenfalls überfüllten Zug. Wir stehen im Gang und plaudern über dies und das, höchst erfreut über unseren schlauen Schachzug. Wir plaudern noch eine ganze Weile, dann werde ich unruhig – das dauert merkwürdig lang bis zum Hauptbahnhof. Kurz darauf die Gewissheit: Wir fahren in die falsche Richtung, nächster Halt ist Lutherstadt Wittenberg. Große Aufregung! Immerhin ist in eineinhalb Stunden die Veranstaltung, die ohne die beiden Autoren nicht stattfinden kann. Werden wir rechtzeitig irgendwie zurückkommen? Haben wir die Handy-Nummern der Veranstalter, um Bescheid zu geben? So ein Mist, warum haben wir nicht noch mal genau geguckt oder gefragt, bevor wir eingestiegen sind (war halt schlicht keine Zeit dafür!)? Ich mache mir Gedanken um die Ticketfrage – immerhin fahren wir jetzt eine halbe Stunde und ich bin ohne Fahrschein.
Die DB-App auf meinem Handy gibt Auskunft: Wenn unser Zug pünktlich ist, können wir in Wittenberg nur wenige Minuten später wieder einen ICE zurück nach Leipzig nehmen und sollten nach einer halben Stunde Fahrtzeit kurz nach sieben Uhr dort ankommen. Und tatsächlich: Etwas später stehen wir am zugigen, verlassenen Bahnsteig in Wittenberg, nach kurzer Wartezeit rollt der ersehnte ICE an. Wir steigen ein und gehen schnurstracks ins Bordrestaurant. „Klappt das, dass wir bis Leipzig hier etwas Warmes zu essen bekommen?“, frage ich den Kellner. „Nach Leipzig – wie lang dauert das?“ „Eine halbe Stunde.“ „Kein Problem“, meint der Mann zuversichtlich. Aufgekratzt nehmen wir Platz, um schnell unser Essen auszuwählen, da wendet sich der Kellner nochmal an mich: „Entschuldigung Sie, ich glaube, Sie sind im falschen Zug. Dieser Zug fährt nicht nach Leipzig, der fährt nach München!“. Unsere Gesichtszüge entgleisen, merkliche Unruhe auch bei anderen Gästen des Speisewagens – das darf doch nicht wahr sein! Doch ein Glück: Schnell ist geklärt, dass der Kellner sich vertan hat, der Zug fährt sehr wohl nach Leipzig.
Dreißig Minuten später rollen wir in den Leipziger Hauptbahnhof ein, verlassen entspannt und satt den Speisewagen. Endlich wieder in Leipzig! Gerade mal eineinhalb Stunden sind vergangen, seit wir an der Messe in der überfüllten S-Bahn steckten – unglaublich, es kommt mir vor, als sei ein halber Tag vergangen. Was soll ich sagen? Danke für diese Reise im Zeittunnel, danke für diese Geschichte.