Loblied der guten Gewohnheiten

Raus aus der Routine!

Ich bin ein Mensch, der um sich herum Ordnung mag und einige feste Gewohnheiten pflegt. Morgens erst einmal eine große Kanne Tee trinken, den Arbeitstag an einem aufgeräumten Schreibtisch beginnen. Einen Zettel mit den anstehenden Aufgaben schreiben, diese dann geradezu lustvoll abhaken, wenn sie erledigt sind – ist das schon zwanghaft? Ob der Umgang mit Gewohnheiten gesund ist oder nicht, zeigt sich daran, wie lebendig das Ganze atmet. Bin ich den ganzen Tag über schlecht gelaunt, wenn mein Tee-Ritual gestört wird? Breche ich zusammen, wenn die Zeit zum Aufräumen des Schreibtischs nicht reicht? Bin ich orientierungslos, wenn die Ereignisse sich überschlagen und meine To-do-Liste nicht hinterherkommt?

Kräfte sparen im Strudel des Alltags

„Die steckt ja auch total in alten Gewohnheiten fest“, „Der muss endlich mal seine Routine durchbrechen!“ – auch ich sage solche Sätze, und sie drücken auch oft etwas Wahres aus. Dennoch denke ich, dass der schlechte Ruf der Gewohnheiten nicht ganz fair ist. Gewohnheiten und regelmäßige Rhythmen tragen uns durch den Tag, sparen Kräfte im Strudel des Alltags. Nie habe ich das deutlicher erlebt als in den Phasen, in denen meine Kinder noch klein waren: Wie wohltuend, wenn beispielsweise der Ablauf am Abend klar ist und nicht jedes Mal nach dem Essen die Diskussion losgeht, ob es jetzt Zeit zum Schlafengehen ist oder doch noch nicht. Wie schön, wenn ab dem Moment, wo das kleine Kind abends das Bad betritt, ein stabiles Programm abläuft: Waschen, Zähneputzen, Umziehen, ab ins Bett, Lesen, Singen, Beten, Licht aus!

Auch wenn ordnungsliebende Menschen schnell als pedantisch und spießig gelten, gibt es doch ein breites Beratungsangebot für Menschen, die sich nach mehr Ordnung sehnen. Ob Karen Kingstons Buchklassiker „Feng Shui gegen das Gerümpel des Alltags“ oder Putzseminare bei Linda Thomas („Putzen lieben?!“ heißt die aktualisierte Neuauflage ihres Buches): Eine Menge Menschen sind auf der Suche nach mehr Klarheit und Struktur in ihrem Leben – und beginnen damit, indem sie ihre Schubladen und Schränke aufräumen. Alte Gewohnheiten aufzubrechen und Raum für Neues zu schaffen schließt eine gewisse Ordnung im Leben also nicht aus, im Gegenteil.

Wegerfahrung sammeln

Raus aus der Routine!, so rufen wir es uns und anderen spätestens zum Jahreswechsel wieder zu. Was ist überhaupt Routine? Der Duden erklärt: eine „durch längere Erfahrung erworbene Fähigkeit, eine bestimmte Tätigkeit sehr sicher, schnell und überlegen auszuführen“. Und er weist auch auf die abwertende Wortbedeutung hin: eine „[technisch perfekte] Ausführung einer Tätigkeit, die zur Gewohnheit geworden ist und jedes Engagement vermissen lässt.“ Wörtlich bedeutet Routine übrigens neutral „Wegerfahrung“ – dahinter kann sich alles Mögliche verbergen!

Wann ist Routine langweilig? Wohl dann, wenn es keine Überraschungen mehr gibt. Wenn ich den Weg auswendig kenne und es nicht mehr schaffe, mit neugierigen Augen durch die Welt zu gehen. Es ist also eher meine Haltung, die zählt: Wie begegne ich anderen, wie gehe ich auf sie und auch auf meine Aufgaben zu? Unsere Gewohnheiten und Routinen sollten uns nicht einengen, sondern sicher machen – so dass wir uns gestärkt auch auf unbekannte Wege begeben und in neue Abenteuer stürzen können.

(Dieser Text wurde angeregt durch das Titelthema der aktuellen Januar-Ausgabe des Monatsmagazins Info3, wo er ebenfalls erscheint. Mehr Informationen dazu hier.)