Mittelpunkt-Schreibfestival 2015

Träumen auf der Mondblumenwiese

Die meisten Menschen, die regelmäßig schreiben, kennen den „Writer’s block“: die Angst vor dem weißen Blatt, die Hemmung, einfach loszulegen. Nicht anders geht es den Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung, die sich in den von Ingeborg Woitsch angeregten mittelpunkt-Schreibwerkstätten treffen. Hinzu kommt zumindest anfangs oft eine große Unsicherheit: Eigene Gedanken, eigene Geschichten zu Papier bringen – kann ich das überhaupt? Seit sechs Jahren trägt Ingeborg Woitsch den Impuls der Schreibwerkstätten in die anthroposophischen sozialtherapeutischen Einrichtungen, 21 solche Gruppen gibt es bereits. Ich stelle mir das feine, aber weit gespannte Netz vor, das sie damit spinnt: eine Landkarte der Wörter, ein Gespinst von vorsichtig gewebten Träumen, ein Muster verschiedenster Begegnungen. Ermöglicht wird diese Arbeit, die unter dem Dach der Anthropoi Selbsthilfe stattfindet, durch Fördergelder der Stiftung Lauenstein. „Das Leben in den Einrichtungen ist ja sehr stark auf die Gruppe ausgerichtet“, so Ingeborg Woitsch. „Sich selbst als Einzelnen wahrzunehmen, auf das eigene Ich zu schauen, ist da gar nicht so leicht.“ Die Schreibwerkstätten fördern solche Selbst-Begegnungen und sind insofern auch Puzzle-Teile für das heute auch in anthroposophischen Einrichtungen verbreitete Anliegen, Persönlichkeitsbildung und Autonomie der Bewohner zu unterstützen: Was will ich denn eigentlich?

Gemeinsam in die Welt der Wörter eintauchen

Ende September gab es mit Unterstützung der Aktion Mensch nach fünf Jahren das zweite mittelpunkt-Schreibfestival – und damit erneut die Möglichkeit für die Schreibenden, sich in einer großen Gruppe anderer Schreibender zu erleben, gemeinsam die Lust am Formulieren zu erfahren, in die Welt der Wörter einzutauchen. Vielleicht auch, die eigenen Schwierigkeiten im Spiegel der Handicaps der anderen zu sehen. 54 Schreibende aus zehn Lebensgemeinschaften mit insgesamt 15 Begleiterinnen und Begleitern trafen sich zweieinhalb Tage lang auf dem Richthof nahe Fulda, hinzu kamen vier Organisatoren, neben Ingeborg Woitsch und Alfred Leuthold von der Anthropoi Selbsthilfe noch Daria Löwenguth-Wachter und Johannes Halbig vom Richthof. Es gibt selten Gelegenheiten, so viele Bewohnerinnen und Bewohner aus anderen Einrichtungen zu treffen. Sie sind hier eindeutig in der Überzahl, die Atmosphäre ist unkompliziert und persönlich. Manche kennen sich schon vom ersten Festival und freuen sich über das Wiedersehen, andere knüpfen vorsichtig – oder auch stürmisch – neue Kontakte.

Am Freitagabend ist die Jugendbuchautorin Sonja Bullen zu Gast. Sie erzählt dem gebannt lauschenden Publikum von ihrem mühsamen Weg bis zum ersten gedruckten Buch. Die Autorin hat Maskottchen mitgebracht, kleine Dinge, die auf ihrem Schreibtisch liegen und sie aufmuntern, wenn sie das Gefühl hat, nicht weiterzukommen. Sie präsentiert den staunenden Zuschauern außerdem ein Shake-Ei, mit dem sie rasselt, singt und manchmal sogar tanzt, um sich selbst Mut zu machen – und das wohlgemerkt in einer Art Wandschrank, in dem ihr Schreibtisch offenbar steht.

Am nächsten Morgen leitet Ingeborg Woitsch in das Thema des Tages ein: „Mein Traum vom Schreiben“. Sie spricht über Worte als Ausdruck der Verbundenheit mit anderen Menschen, aber auch als Weg zu sich selbst. Literarische Vorbilder kommen zur Sprache – auch die können schließlich Mutmacher und Wegweiser sein. „Mein Vorbild ist Astrid Lindgren“, ruft eine Teilnehmerin dazwischen. „Meins ist Goethe“, ergänzt ein anderer selbstbewusst. Hermann Hesse, Christian Morgenstern und schließlich noch Rose Ausländer werden genannt – eine eindrucksvolle Palette!

Gedanken ohne Schranken

Um auf den Schreibblock zurückzukommen: Da kann es nicht schaden, ein paar Zaubersprüche zu kennen, die den Gedanken- und Schreibfluss in Gang bringen: „Eins, zwei, drei, Wörter kommt herbei – es sei!“ Oder mittels magischer Zeichen die Muse zu rufen, damit sie sich an den Schreibtisch setzt: Ist das ein Kringel oder eher ein Flaschengeist – oder etwas ganz anderes? Mit strahlender Regenbogenkreide und geschlossenen Augen aufs Papier gebracht, könnte es sich jedenfalls als hilfreich erweisen!

Mit solchen spielerischen Annäherungen beginnen die Workshops, in denen immer zwei Gruppen aus verschiedenen Lebensgemeinschaften zusammenarbeiten. Ich darf während dieser Zeit durch die Arbeitsräume streifen und die schöpferischen Prozesse beobachten, die sich in Gang setzen: mal schneller, mal langsamer, in den verschiedenen Gruppen durchaus unterschiedlich ausgeprägt. Gleich die erste Zauberspruch-Aufgabe ist, bei allem spielerischen Charakter, anspruchsvoll und der Ehrgeiz bei vielen Teilnehmern hoch. Von kurzen Sätzen bis zu komplexen Mehrzeilern reichen die Ergebnisse, viele Sprüche sind höchst originell zum Reim geführt: „Gedanken ohne Schranken, mit viel Phantasie – hihihi!“

Nach diesen Fingerübungen geht es an die ersten längeren Texte: Die Teilnehmenden werden angeregt, einen Traum aufzuschreiben. In der Umsetzung gibt es ein breites Spektrum: Da sind Menschen, die nach kurzem Nachdenken ohne Zögern ihren Traum auf das wolkenförmige Papier bringen. Andere sind vorsichtiger, wollen erst einmal ein Schmierpapier verwenden. Ein Teilnehmer diktiert seinen Traum zunächst einer Helferin und schreibt ihn dann mit viel Mühe ab. Schließlich tragen alle ihre Texte vor – fast alle, denn manchmal ist die Scheu auch zu groß und jemand anderes springt als Vorleser ein. Sehnsüchte, Wünsche und Tagträume spielen eine große Rolle in den Texten. Träume von der Familie – „Mama schaut vom Himmel auf mich runter und lacht“ –, Träume vom Reisen in fremde Länder, durch die Luft oder auf dem Wasser. Eine Teilnehmerin beschreibt in vielen Einzelheiten ihre künftige Hochzeit: „Ich trage ein schönes, weißes Kleid.“ Der letzte Satz eines anderen Textes lautet „Ich bin kerngesund“. Mehr als einmal muss ich kräftig schlucken.

Von Einhörnern und anderen Wundern

Am Nachmittag geht es weiter: „Eine wundersame Begegnung“ ist der nächste Workshop-Teil überschrieben. Als Material erhalten alle ein Blatt mit der Abbildung eines Einhorns und Erläuterungen zu diesem sagenumwobenen Fabelwesen. Es wolle uns daran erinnern, auf unser Herz zu hören, steht dort. Nun sollen kleine Geschichten entstehen: Wie könnte eine Begegnung mit einem Einhorn aussehen? Was hat es mit seinem ungewöhnlichen Horn auf sich? Was könnte passieren, wenn das Horn verloren geht? Konzentrierte Arbeitsstimmung in einer Gruppe, die ich besuche. Im gemeinsamen Gespräch und in der anschließenden Einzelarbeit beginnt die Auseinandersetzung mit dem märchenhaften Stoff. „Manchmal ist etwas vom Einhorn im Zauberstab, das weiß ich aus Harry Potter!“ An einer anderen Stelle wispert ein Teilnehmer: „Da raschelt was im Wald, das Einhorn raschelt im Gebüsch!“ „Es hat den Kopf gehoben!“ „Kann ich dem Einhorn auch einen Namen geben?“, fragt eine junge Frau. Eine komplett andere Stimmung herrscht im nächsten Haus. Dort sind die Geschichten schon fertig und werden gerade vorgelesen. „Warrrummm ist das Horrrn vom Einnnhorrrn abgebrochen?“, schallt es mir laut und mit rollendem „R“ entgegen – die Zuhörer liegen fast unter dem Tisch vor Lachen.

Zum Schluss müssen alle Gruppen noch eine Auswahl treffen: Wer möchte, wer darf am nächsten Tag auf der großen Bühne im Saal etwas vorlesen oder zeigen – einen Zauberspruch, ein magisches Zeichen, einen Traum, eine Einhorn-Geschichte? Beim Finale am Sonntag war ich selbst leider nicht mehr dabei. Ich habe aber keinen Zweifel daran und habe es von anderen auch erzählt bekommen, dass es eine wirklich großartige Lesung und ein wunderbarer Abschluss dieser zweieinhalb gemeinsamen Tage war: lauter kleine Mutmach-Perlen, kostbare Zeichen der Selbst- und Weltbefragung.