Über ein Jahr liefen die Vorbereitungen für die inklusive Adaption des Goethe-Klassikers, an der nicht weniger als 80 Menschen mit und ohne Behinderungen mitwirkten. Viele Monate lang wurde geprobt, Kulissen gebaut, Kostüme genäht – das Ergebnis war beeindruckend und stellte so manche professionelle Inszenierung in den Schatten. Neben dem bekannten ersten Teil des Werkes wurden auch zentrale Szenen aus „Faust II“ aufgeführt. Bereits die Premiere, die Ende Oktober im großen Saal der Gemeinschaft stattfand, war ein voller Erfolg: Als am Ende der Aufführung das komplette Ensemble singend durch den Saal zur Bühne schritt, hin zu Faust, der nun doch noch Erlösung erfahren darf, war das ein echter Gänsehaut-Moment. Über vier Stunden hat das Premieren-Publikum mit den Darstellern gefiebert, reichlich Szenenapplaus vergeben, gelacht, vielleicht sogar geweint und manchmal auch gezittert. Etwa dann, als Anne Kleinhans, die junge Darstellerin des Gretchens, ihre offensichtliche Aufregung geradezu heroisch gemeistert hat, um sich dann freizuspielen und die Zuschauer mit ihrer berührenden Interpretation dieser tragischen Rolle in ihren Bann zu schlagen. Helmut Hampel als Mephisto brachte den Bösewicht mit geradezu überwältigender Präsenz auf die Bühne. Und Anne Gründler spielte eine Hexe, deren energiegeladenes Auftreten einem schier den Atem rauben konnte.
Alle reden über Inklusion – hier wird sie gelebt
Doch eigentlich scheut man sich, einzelne Spieler und Mitwirkende herauszustellen, denn das Altenschlirfer Faust-Projekt war vor allem eines: ein Gemeinschaftswerk. Die Regisseurin Almut König hat gemeinsam mit Projektleiter Norbert Venschott Großartiges geleistet und ein nicht nur künstlerisch, sondern auch sozial überzeugendes Projekt auf die Beine gestellt. Nicht nur Bewohner und Mitarbeiter der Gemeinschaft Altenschlirf haben mitgespielt – viele verschiedene Menschen waren beteiligt, wirkten auf der Bühne mit oder unterstützten das Projekt im Hintergrund. Einige Mitspieler kommen aus dem kulturtherapeutischen Dorf Melchiorsgrund, in dem seit vielen Jahren intensiv und auf hohem Niveau Theaterstücke erarbeitet werden, andere sind Nachbarn aus den umliegenden Dörfern der anthroposophischen Lebensgemeinschaft im Vogelsberg.
Beistand und Unterstützung kamen von vielen, manchmal völlig unerwarteten Seiten. So war beispielsweise lange offen, wer sich um die Musik kümmern könnte – da meldete sich Anfang des Jahres Angela Cremer, eine erfahrene Musiklehrerin und Chorleiterin aus der Region, die in der Lokalzeitung von dem Projekt gelesen hatte. Sie komponierte nicht nur mehrere Chorstücke, sondern brachte gleich ihre komplette Musiziergruppe in das Faust-Projekt ein. Auch ihr Lebenspartner Hans Döpping ließ sich für das Stück begeistern: Er spielte den Türmer und war mit 91 Jahren der mit Abstand älteste Mitwirkende.
Ansteckende Spielfreude
Gerade die Gruppenszenen in der Hexenküche, der Walpurgisnacht oder im Wirtshaus vermittelten die ansteckende Spielfreude aller Beteiligten: Da wuselten die Meerkatzen, da tobten die Hexen und becherten die zechenden Gesellen in Auerbachs Keller. Die überzeugenden schauspielerischen Leistungen wurden unterstützt durch ein minimalistisches, aber höchst wirkungsvolles Bühnenbild, auch Kostüme und Masken waren ausdrucksstark und schufen viel Atmosphäre. Als echter Glücksgriff erwies sich die Entscheidung, die beiden Hauptrollen Faust und Mephisto mit mehreren Darstellern zu besetzen. Auf diese Weise konnten nicht nur die Darsteller die umfangreichen Rollen besser handhaben, auch für die Zuschauer kam Abwechslung ins Spiel.
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein“ – die insgesamt sechs außergewöhnlichen Theaterabende (davon drei im Schlosstheater Fulda) waren imstande, dem arg strapazierten Faust-Zitat wieder neues Leben einzuhauchen. Ob Menschen mit oder ohne Hilfebedarf, ob alte Menschen oder junge, extrovertierte oder zurückhaltende: Sie alle haben beim Altenschlirfer Faust einen Platz gefunden und gemeinsam zum Gelingen beigetragen. Und die Geschichte geht noch weiter, denn jetzt heißt es: Nach dem Theater ist vor dem Film! Der junge Filmemacher Benjamin Kurz hat den kompletten Probenprozess und mehrere Aufführungen mit der Kamera begleitet und gemeinsam mit einem kleinen, engagierten Filmteam Material für einen Dokumentarfilm über das Projekt gesammelt. Im Frühjahr 2016 soll der geplante Langfilm auf DVD erscheinen.
Mehr Informationen zum Projekt: www.faustprojekt.de