Die Löwin in mir

Mutter zu werden war die bisher einschneidendste Erfahrung meines Lebens. Dieser sensationelle Vorgang, dass da in mir ein Kind wuchs, das ich schließlich unter Schmerzen zur Welt brachte – Schmerzen, die ich so noch nicht kannte. Der Stolz darüber, diese Schmerzen ausgehalten zu haben. Die absolute Hingabe an dieses kleine Wesen, die Sorge um sein Wohlergehen. Dieses Stand-by-Gefühl in den ersten Wochen und Monaten: ständig abrufbereit zu sein. Die Freude, es aufwachsen und gedeihen zu sehen. All diese beglückenden Erfahrungen bedeuten keinesfalls, dass ich nicht auch Wut, Frust oder zumindest Ärger über das schreiende, rot anlaufende Baby erlebt habe, über den trotzenden Dreijährigen, den pubertierenden Teenager.

Die tiefsten und wichtigsten menschlichen Beziehungen sind für mich die zu meinen drei Kindern. Niemandem sonst auf der Welt fühle ich mich derart verbunden. Doch dazu habe ich selbst, anders als bei anderen Beziehungen, nichts beigetragen. Es kam einfach über mich. Erich Fromms Aussage, dass die Elternliebe sich von aller anderen Liebe durch ihre Bedingungslosigkeit unterscheidet, kann ich unmittelbar nachvollziehen. Obwohl: Ist das überhaupt Liebe? Ich empfinde das Gefühl jedenfalls als etwas zutiefst Animalisches – die Unbedingtheit, mit der ich für meine Kinder einstehen würde, hat eher etwas von einer Löwenmutter.

Würde eines meiner Kinder einem Verbrechen zum Opfer fallen, zögerte ich keine Sekunde, die Täterin oder den Täter in Selbstjustiz zu bestrafen. Das ändert nichts daran, dass ich selbstverständlich für ein staatliches Rechtssystem und gegen die Todesstrafe bin – dieser Widerspruch löste sich angesichts einer solchen Konstellation in Nichts auf. Wenn meine kleinen Kinder sich daneben benommen haben und ich mich noch im einen Augenblick unsäglich über sie geärgert hatte, wechselte ich dennoch nicht selten mit wehenden Fahnen auf ihre Seite, sobald ihr Vater in mein Schimpfen einstimmte – wenn auch aus pädagogischen Gründen natürlich nur innerlich. Irgendwie muss ich dieses Fleisch von meinem Fleische gegen Angriffe von anderen verteidigen, selbst gegenüber meinem eigenen Mann, dessen Gene ja schließlich genauso in den Kindern stecken. Läuft das Ganze wirklich so simpel und biologistisch? Ich jedenfalls erlebe es so, bei mir selbst und auch bei Freundinnen, mit denen ich mich über das Thema austausche.

Und wenn die Jungen groß werden? Da immerhin kommen mir die Löwinnen-Instinkte auch zugute: Ich hatte keinerlei Mühe damit, mein erstes „Junges“ auf seine eigene Wildbahn zu schicken. Zum Auszug aus dem Elternhaus habe ich meinen Großen mehr als deutlich animiert – nicht ohne dafür die ein oder andere erstaunte Bemerkung aus meinem Umfeld zu ernten. Na ja, es gibt noch zwei weitere Geschwister, der entscheidende Abschied steht mir also vielleicht noch bevor, wenn auch meine Töchter eigene Wege gehen werden.

Was macht die Löwin, wenn ihre Jungen alle weg sind? Welche Ausprägungen wird meine Mutterliebe in diesem nächsten Lebensabschnitt haben? Ich vermute, das Absolute der Beziehung bleibt lebenslänglich bestehen, auch wenn die gelebte Verbindung mit meinen Kindern dann andere Formen annehmen wird. Diese zu entwickeln, ist vielleicht die größere Herausforderung. Sie hat etwas mit einer gestalteten Kultur der Begegnung zu tun und führt aus dem Animalischen heraus. Dennoch: Die Löwin in mir wird wohl immer bleiben.