Ein Plädoyer für den Waldorfkindergarten
In den Augen so mancher bildungsbürgerlich-ambitionierter Eltern kann die gezielte Förderung ihrer Kinder gar nicht früh genug starten. Schon im Kindergartenalter organisieren sie für ihren Nachwuchs Chinesisch-Kurse, bringen ihn zur musikalischen Früherziehung, zum Reiten, Yoga und Ballett. Noch besser, wenn gleich die Kindergärten solche Fördermöglichkeiten anbieten – immerhin verbringen die lieben Kleinen dort ja einen großen Teil des Tages. Die Zeiten, in denen Kinder in diesem Alter einfach nur verträumt herumspielen und sich dabei die Welt Schritt für Schritt im eigenen Tempo aneignen konnten – sie scheinen weit zurück zu liegen.
Freiräume für kindliche Entwicklung
Als Friedrich Fröbel vor gut 175 Jahren im Juni 1840 den ersten „Allgemeinen deutschen Kindergarten“ in Thüringen stiftete, ging es ihm vor allem um Freiräume für kindliche Entwicklung und ein Gegenmodell zu den lieblos-autoritären Aufbewahrungsanstalten für Arbeiterkinder. Sähe er, der Verfechter einer „Pädagogik vom Kinde her“, den heutigen, wettbewerbsgetriebenen Förderwahn so mancher Eltern, die die Kindergartenzeit vor allem als Einflugschneise für eine erfolgreiche Schulkarriere betrachten, würde er sich vermutlich erstaunt die Augen reiben. Erziehungswissenschaftlerinnen, Bildungsforscher und Erzieherinnen können noch so oft betonen, dass im Kleinkind- und Vorschulalter Bindung weitaus wichtiger ist als kognitive Bildung, dass die Entwicklung motorischer ebenso wie kreativer Fähigkeiten im freien Spiel oder der Sozialkompetenz in der Gruppe für eine gelungene Bildungsbiografie wichtiger ist als das Alter, in dem ein Kind die ersten Sätze lesen kann – viele Eltern sind selbst offenbar derart stark von Abstiegsängsten (oder Aufstiegsdruck?) getrieben, dass diese Informationen kaum fruchten.
Doch es geht auch anders. In den rund 555 Waldorfkindergärten in Deutschland (und rund 2.000 Waldorfkindergärten weltweit) weht ein anderer Wind – und es ist wirklich schade, dass er nicht längst lauter weht! Wie gut täte es unserer Gesellschaft, wenn die Waldorfkindergärten aus ihrem Nischendasein herausträten, immerhin gibt es bundesweit derzeit über 40.000 Kindergärten. War meine eigene Aufmerksamkeit und Wertschätzung früher vor allem auf die Waldorfschulen gerichtet, hat sich das inzwischen etwas verändert: Mittlerweile bin ich überzeugt, dass es noch entscheidender ist, ob ein Kind in seinen ersten, vorschulischen Lebensjahren jene schützende Hülle erhält, die Waldorfpädagogik im gelungenen Fall bieten kann.
Wachsmalblöckchen statt Tablets
Die Erzieherinnen (und die wenigen Erzieher) der Waldorfkindergärten sind in meinen Augen echte Heldinnen: Unterbezahlte, sanfte Rebellinnen, die sich dem gesellschaftlich längst etablierten Förderwahn entziehen und nicht müde werden, den Eltern die Gründe dafür plausibel zu machen. Sie kochen und backen mit den Kindern, singen und erzählen, malen und gehen in den Garten. Sie gestalten einen verlässlichen, gesunden Tages- und Wochenrhythmus. Sie pfeifen auf die Digitalisierung der Kindheit, zupfen weiterhin unbeirrt Märchenwolle und legen Wachsmalblöckchen und Aquarellpapier auf den Tisch statt elektronische Tablets mit wahnsinnig effizienten Lernspielen. Wenn wir uns gegen die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaft und die vermeintliche Eindimensionalität gelungener Karriereförderung schon bei den Kleinsten wehren wollen, wenn wir es ernst meinen mit der Freiheit des Geistes und der Macht der Phantasie, dann sollten wir die Waldorfkindergärten unterstützen. Denn in ihrer täglichen Arbeit geht es keineswegs um eine unreflektierte, rückwärtsgewandt-naive „heile Welt“, sondern um gelebten Widerstand gegen den Verlust der Kindheit.