Wir zahlen immer einen Preis

Ich sitze im parkenden Auto zwischen Frankfurter Bürotürmen, auf meinem Schoß ein Stapel Ausdrucke einer Broschüre, die ich Korrektur lesen soll. Auf der Rückbank meine eineinhalbjährigen Zwillingstöchter in ihren Kindersitzen, bei Laune gehalten durch zwei Brezeln. Etwa zehn Minuten herrscht hinten vergnügte Ruhe, ich kann das mümmelnde Geräusch ausblenden und mich meinen Korrekturen widmen. Danach wird es … na ja, mühsam. Ein ungünstige Verkettung widriger Umstände – Kinderfrau krank, Drucker und Fax kaputt, Deadline für die Schlusskorrektur: heute – hat uns in diese absurde Situation gebracht, in der ich mir außer Haus die Ausdrucke besorgt habe, sie jetzt im Auto korrigiere und schließlich scheinbar entspannt lächelnd meinem Kunden vorbeibringen werde, mit den Worten „Ich war eh gerade in der Nähe!“.

Fast zehn Jahre sind seitdem vergangen, doch meine Erinnerung hat an Deutlichkeit nichts verloren: Auch so „vereinbaren“ wir manchmal Familie und Beruf – da können wir noch so gut organisiert sein. Die meisten berufstätigen Eltern dürften solche Notsituationen kennen, die Kompromisse, mit denen man mal mehr, mal weniger gut leben kann: Da macht man dann eben doch den Fernseher an, öffnet ein YouTube-Filmchen auf dem Tablet oder unternimmt Bestechungsversuche mit sonst streng rationierten Süßigkeiten, um weitere, kostbare Minuten Zeit zu gewinnen, um nur noch schnell diese E-Mail, diesen Artikel oder diese Vorlage für den Vorstand fertig schreiben zu können.

Überforderung als Lebensgefühl

Es bleibt das unschöne Gefühl, in solchen Momenten weder der Arbeit noch den Kindern gerecht zu werden. Das ist nicht weiter dramatisch, wenn es sich um Ausnahmesituationen handelt. Doch bei allzu vielen Eltern gehört dieses Gefühl zum Alltag: die Hetze vom Büro zum Hort, die innere Abwesenheit, weil man mit den Gedanken noch bei Jobproblemen ist oder auch Nacht- oder Wochenendschichten am Schreibtisch. Laut der Allensbach-Studie „Monitor Familienleben 2012“ für das BMFSFJ fühlen sich 82 Prozent der berufstätigen Mütter mit Kindern unter 16 Jahren überfordert – und 52 Prozent der Väter. „Zu kurz kommen in den Augen dieser Mütter nicht allein die eigenen Ansprüche, sondern auch die des Partners oder der Kinder. Von den Vätern machen sich deutlich weniger solche Gedanken. Gerade etwa ein Drittel hat den Eindruck, den Anforderungen der Partnerin manchmal nicht gerecht zu werden“, heißt es in der Studie.

Das Thema „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ geistert seit Jahren durchs Land, dominiert familienpolitische Debatten und füllt ganze Regalmeter in den Buchhandlungen. Das Ganze schien zunächst so einfach: Wir brauchen mehr und bessere Kinderbetreuungsmöglichkeiten, selbstverständlich auch schon für die Allerkleinsten, damit deren Mütter nicht jahrelang überqualifiziert zu Hause hocken, sondern sich alsbald wieder in ihr Berufsleben stürzen und ihrer Karriere widmen können. Schluss mit dem Rabenmutter-Klischee, das sich gerade in deutschen Köpfen so hartnäckig hält, freie Fahrt für die Gleichberechtigung! Diesen Überlegungen liegen mehrere höchst fragwürdige Annahmen zugrunde. Etwa die, dass Selbstverwirklichung und Freiheit vor allem am Arbeitsplatz stattfänden. Oder die Vorstellung, dass Erziehung einerseits etwas sei, was hochqualifizierte Mütter unterfordert, gleichzeitig aber auch etwas, was im Sinne der optimalen Förderung an pädagogische Profis auslagert werden sollte.

Was die Frage der Selbstverwirklichung angeht, sollte nicht in Vergessenheit geraten, dass der weitaus größere Teil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer seine Arbeit schlicht als notwendige wirtschaftliche Grundlage seiner Existenz betreiben dürfte denn als kreative, persönlichkeitsbildende Maßnahme. Doch auch wer in der glücklichen Lage ist, seinem Beruf mit Freude nachgehen zu können, hat doch gute Gründe, regelmäßig Zeitfenster für anderes freizuhalten – seien es die eigenen Kinder, unterstützungsbedürftige Eltern, gesellschaftliches Engagement oder schlicht persönliche Interessen.

Frauen im Fokus

Es gibt heute so viele gut qualifizierte Frauen wie nie zuvor. Klar, dass diese auch ihre berufliche Tätigkeit und Entwicklung im Auge haben und sich nicht mit der Geburt des ersten Kindes dauerhaft auf ehrenamtliche Bastelabende zurückziehen wollen. Spätestens seit der Neuregelung des Unterhaltsrechts 2008 wird von Frauen verlangt, dass sie wirtschaftlich auf eigenen Füßen stehen können. Und das wollen sie ja auch! Es kann also nicht darum gehen, das alte deutsche Familienmodell mit seinen starren Rollenzuweisungen zu beschwören. Umso erschreckender ist es, dass nach wie vor fast ausschließlich die Frauen im Fokus der Vereinbarkeits-Diskussion stehen – als ob sie nicht die Lebenswelt der Männer in gleichem Maße betreffen müsste.

Mittlerweile mehren sich die kritischen Wortmeldungen jener Frauen, die es versucht haben, die dem Vereinbarkeits-Versprechen geglaubt haben – und feststellen mussten, dass nach wie vor viele Fragen offen sind. „Es gibt nur ein Nebeneinander zweier völlig unterschiedlicher Lebensbereiche, die sich, wenn man sie gleichzeitig ausübt, einfach nur addieren“, schreiben etwa die beiden Journalistinnen Susanne Garsoffky und Britta Sembach in ihrem überaus lesenswerten Buch Die Alles ist möglich-Lüge. „Den Preis für die Gleichzeitigkeit beider Lebensbereiche zahlen alle. Männer, Frauen und Kinder. Die Unternehmen, die gut ausgebildete, erfahrene Mitarbeiter mit Kindern – vor allem Frauen – verlieren, weil sie den Spagat unter diesen Bedingungen einfach nicht mehr aushalten.“

Freiheit – welche Freiheit?

Die traurige Wahrheit ist, dass wir alle – Frauen wie Männer – von einer wirklichen Freiheit der Lebensentwürfe auch heute weit entfernt sind. Der gesellschaftliche Druck auf Frauen, nach einer kurzen Babypause in Windeseile wieder ins bezahlte Berufsleben zurückzukehren, ist enorm – von individuellen wirtschaftlichen Notwendigkeiten ganz abgesehen. Fast die Hälfte der Familien in Deutschland löst diesen Anspruch durch das neue Standard-Modell „Er Vollzeit, Sie Teilzeit“ ein, wie eine aktuelle Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt. Immerhin bei einem Viertel der Paare arbeiten beide Partner etwa gleich viel. Und Männer, die ihre Arbeitszeit reduzieren, stellen häufig fest, was Frauen seit vielen Jahren erleben: dass sie sich aufs berufliche Abstellgleis begeben.

In dem Moment jedoch, wo ein Elternteil Teilzeit arbeitet, der andere aber Vollzeit, ist die Rollenverteilung weiterhin eindeutig: Erster Ansprechpartner für Kinderfragen, -krankheiten, -sorgen, für den Haushalt und Notfälle aller Art sind diejenigen, die „nur Teilzeit“ arbeiten, weil sie ja schließlich flexibler sind. Das sorgt immer wieder für Frust, weil die Abgrenzung so schwierig ist. Arbeiten beide Eltern komplett oder annähernd Vollzeit, ist die Überforderung ebenfalls und erst recht vorprogrammiert: Hundert Prozent arbeiten, dabei aber zuverlässig für Kinder, Partner, Haushalt da sein, das kann schon rein rechnerisch nicht klappen. Es gibt aber nun einmal in jedem Leben – und im Leben mit Kindern erst recht – Situationen, in denen genau diese Zuverlässigkeit und Verfügbarkeit wichtig wären. Kein Kind will sich mit seinen akuten Sorgen auf die für den übernächsten Abend geplante „Quality Time“ vertrösten lassen.

Abschied von linearen Lebensläufen

Sind denn die in Vollzeit arbeitenden Väter des herkömmlichen Familienmodells wirklich ein taugliches Rollenmodell? Ist es tatsächlich erstrebenswert, mit einer 60-Stunden-Woche Karriere zu machen, während einem der Partner „den Rücken freihält“? Freihält von was – vom Leben? Das ist eigentlich das Ärgerlichste an der ganzen Vereinbarkeits-Diskussion: dass sie wirtschaftliche Interessen (des Staates, der Arbeitgeber) so eindeutig über die sozialen Bedürfnisse von Eltern und Kindern stellt. Denn die Frage ist doch: Was ist uns im Leben wichtig?

Unsere Arbeitszeit dehnt sich immer weiter aus. Wer heute Ende 30 ist, hat noch fast 30 weitere Berufsjahre vor sich. Sollte es da wirklich unverzeihlich sein, sich für ein paar Jahre aus dem Beruf zurückzuziehen oder zumindest weniger zu arbeiten – und das, wo ohnehin viele Menschen gar nicht wissen, wie es mit ihrem Job in den nächsten Jahren weitergeht? „Wir müssen uns von linearen Lebensläufen und dem Primat der Erwerbsarbeit verabschieden und die Gesellschaft fit machen für eine On-off-Biografie“, meinen auch die Autorinnen Garsoffky und Sembach. „Eine Biografie, in der Zeiten der Sorge gleichberechtigt und sozial abgesichert neben Erwerbszeiten stehen. Und zwar immer wieder im Wechsel. Das gilt für Männer wie für Frauen.“ Was wir dazu jedoch brauchen, ist eine echte Anerkennung dessen, was Eltern leisten. Wir brauchen eine Arbeitswelt, in der Familienfreundlichkeit kein Lippenbekenntnis ist. An verschiedenen Stellen gibt es Vorschläge für eine 32-Stunden-Woche, eine „Familienarbeitszeit“ für beide Eltern. Ein solches Modell könnte für viele Familien hilfreich sein und würde auch die unsägliche Präsenzkultur in deutschen Unternehmen deutlich hinterfragen.

Die Zeit, in der unsere Kinder unsere völlige Hingabe verlangen, rund um die Uhr, ist auf einige wenige Jahre begrenzt. Kein Teenager legt Wert darauf, dass seine Eltern ihm beim Hausaufgabenmachen auf der Schreibtischkante sitzen. Meine mittlerweile elfjährigen Töchter sind schon seit Längerem in der Lage, sich bei Bedarf auch einmal selbst ein schnelles Mittagessen zu machen – und sind stolz darauf. Was nicht bedeutet, dass sie die Wärme und Fürsorge, die ein fertig gedeckter Tisch beim Nachhause-Kommen ausstrahlt, nicht ebenso zu schätzen wüssten.

Es ist so vermessen zu glauben, man könnte alles haben – zur gleichen Zeit, mit voller Kraft, ohne Verzicht. Ja, wir müssen manchmal zurückstecken. Wir zahlen immer einen Preis. Und es ist auch eine Frage der persönlichen Leidensfähigkeit, wie viele Kompromisse wir einzugehen bereit sind – emotional, gesundheitlich, finanziell. Bei alldem soll aber auch nicht untergehen, was wir als Eltern erhalten: Das unermessliche Geschenk, das ein Zusammenleben mit Kindern bedeutet. Manchmal auch Frust und Stress. Was davon überwiegt, dürfte nicht zuletzt davon abhängen, unter welchem Druck wir leben und arbeiten – der aber ließe sich gesellschaftlich gestalten. Auf dem Weg zu wirklich lebensfreundlichen, partnerschaftlichen Modellen der Vereinbarkeit von Familie und Beruf haben wir allenfalls erste Schritte unternommen – die Hauptstrecke des Weges liegt noch vor uns.

(Dieser Text ist auch in der aktuellen Ausgabe von Info3 mit dem Titelthema „Eltern am Limit“ erschienen. Mehr Informationen dazu hier.)

Literaturtipps zum Thema:

Susanne Garsoffky, Britta Sembach: Die Alles-ist-möglich-Lüge. Pantheon Verlag 2014, 256 Seiten, Hardcover, 17,99 €
Jesper Juul: Wem gehören unsere Kinder? Dem Staat, den Eltern oder sich selbst? Ansichten zur Frühbetreuung. Beltz 2012, Taschenbuch, 4,95 €
Rainer Stadler: Vater, Mutter, Staat: Das Märchen vom Segen der Ganztagsbetreuung. Ludwig Buchverlag 2014, 272 Seiten, Hardcover, 19,99 €